Norwegisch – eine oder zwei Sprachen?

Das Norwegische nimmt auf der Sprachenkarte Europas eine Sonderstellung ein: Es gibt insgesamt sechs bis acht geschriebene Formen der norwegischen Sprache. Zwei von ihnen haben einen offiziellen Status. Das ist weltweit einzigartig: Es gibt sonst keine andere Sprache, die zwei offizielle, gleichgestellte geschriebene Varianten hat, die durch die Bevölkerung eines Landes desselben ethnischen Ursprungs benutzt werden.

Norwegisch: rot – bokmål, blau – nynorsk, grau – neutralSeit dem Jahr 1885 kann das gesprochene Norwegische entweder als Nynorsk (‚Neu-Norwegisch‘) oder als Bokmål (‚Buchsprache‘) verschriftet werden. Die meisten Norweger (86 %) schreiben in Bokmål, die restlichen 14 % in Nynorsk. Jeder Norweger beherrscht eine der Varianten aktiv und versteht die andere passiv.

Seit dem Jahr 1380 war Norwegen für vier Jahrhunderte unter dänischer Herrschaft. Die Sprache, die man vorhin gesprochen hatte (Mittelnorwegisch), wurde abgeschafft und durch das Dänische ersetzt. Nach dem Jahr 1814 stand die norwegische Regierung vor einem Dilemma: Welche Sprache soll nun die Landessprache werden, wenn die Dänen weg sind?
Eine Möglichkeit war es, eine norwegisierte Variante des Dänischen zu benutzen, nachdem das Dänische einen so langen Einfluss auf das Land hatte. Daraus entstand Bokmål.

Das war vielen aber nicht genug. Unter der Führung des Sprachwissenschaftlers Ivar Aasen (1813–1876) wurde eine neue Sprache entwickelt, deren Basis die norwegischen Dialekte bildeten. Aasen reiste 1843 bis 1846 durch das ganze Land, ließ sich von den intakten ursprünglichen Mundarten inspirieren, schrieb schließlich eine Grammatik (1864) und stellte ein Wörterbuch der neuen norwegischen Sprache (1873) zusammen, die seit dem Jahr 1929 Nynorsk genannt wird. Nynorsk ist bis heute im Süden und Westen des Landes stark.

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Der Gebrauch der beiden Sprachvarianten wird heute im norwegischen Sprachgesetz (Språklova) geregelt. Doch sowohl Bokmål als auch Nynorsk kennen weitere 3 Rechtschreibvarianten: konservative, moderate und radikale. Die Übergänge dazwischen sind natürlich fließend. Wenn wir zwei inoffizielle Varianten hinzuzählen, nämlich das archaische Bokmål (Riksmål) und das archaische Nynorsk (Høgnorsk), kommen wir auf insgesamt 8 Schreibmöglichkeiten innerhalb der norwegischen Sprache. Das ist weder transparent noch praktisch. Der Rat für Norwegische Sprache (Språkrådet) hat daher Rechtschreibreformen beschlossen, um die beiden Sprachen einander näher zu bringen.

Varianten des Norwegischem am Beispielsatz

Deutsch: Drei Wochen vor Weihnachten hat es heftig geschneit.

Bokmål:
– konservativ: Tre uker før jul fikk vi lykt snevær.
– gemäßigt: Tre uker før jul fikk vi lykt snøvær.
– radikal: Tre uker før jul fikk vi tjukt snøvær.

Nynorsk:
– konservativ: Tri vikor fyre jol fekk me tjukt snøvêr.
– gemäßigt: Tre veker føre jul fekk me tjukt snøvêr.
– radikal: Tre veker føre jul fekk vi tjukt snøvêr.

Das norwegische Sprachgesetz schreibt vor, dass die beiden Schriftsprachen geschützt werden müssen. In der Praxis bedeutet dies, dass z. B. die Schulbücher in beiden Sprachen vorliegen müssen – ein enormer Aufwand. Doch nicht überall wird das Gesetz so streng ausgelegt. Die auflagenstärkste Zeitung veröffentlicht ihre Artikel z. B. in einer Bokmålsvariante, die seit dem Jahr 1938 nicht mehr erlaubt ist.

Im Allgemeinen verwahrlost Nynorsk, es wird auch von vielen Norwegern als hässlich empfunden. Andererseits wird Nynorsk von der linguistischen Öffentlichkeit als die bevorzugte Varietät benutzt.

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